Geisteswissenschaftler

Henry Bergson

1859-1941

„Was ist für mich der gegenwärtige Augenblick? Das der Zeit Eigentümliche ist, dass sie abläuft; die schon abgelaufene Zeit ist die Vergangenheit, und Gegenwart nennen wir den Augenblick, in dem sie abläuft. Aber hier kann nicht die Rede sein von einem mathematischen Augenblick. Zweifellos gibt es eine ideale Gegenwart, rein begrifflich als unteilbare Grenze zwischen Vergangenheit und Zukunft genommen. Aber die wirkliche, die konkrete erlebte Gegenwart, die ich meine, wenn ich von meiner gegenwärtigen Wahrnehmung spreche, beansprucht notwendigerweise eine gewisse Dauer. Wo ist nun diese Dauer anzunehmen? Liegt sie diesseits oder jenseits des mathematischen Punktes, den ich als gegenwärtigen Augenblick ideal bestimme. Es ist ganz klar, dass sie zugleich diesseits und jenseits ist, und dass das, was ich meine Gegenwart nenne, mit einem Fuße in meiner Vergangenheit und mit dem anderen in meiner Zukunft steht. In meiner Vergangenheit vorerst, denn der Augenblick, in dem ich spreche, ist schon weit von mir; dann in meiner Zukunft, denn es ist die Zukunft, zu welcher der jetzige Augenblick hinstrebt, es ist die Zukunft, auf die ich gerichtet bin, und wenn ich jene unteilbare Gegenwart, dies unendlich kleine Element der Zeitkurve, festlegen könnte, so würde sie die Richtung der Zukunft zeigen. Der psychische Zustand, den ich meine Gegenwart nenne, muss also zugleich eine Wahrnehmung der unmittelbaren Vergangenheit und eine Bestimmung der unmittelbaren Zukunft sein.“

[110] Henri Bergson, Materie und Gedächtnis, Ullstein Materialien [1896] (1964) S.132